Revolution bei der Bahn

Revolution bei der Bahn

Es begann – wie könnte es anders sein – im Warschauer Café „Nowy wspaniały świat“. Die Künstlerin Anna Baumgart und der Kunsthistoriker Prof. Andrzej Turowski, Forscher der russischen Avantgarde, sprachen über den Agitationszug, der Anfang der 20. Jahre des 20. Jahrhunderts von Moskau nach Berlin fuhr, um die Fackel der Revolution durch Europa zu tragen und die Revolution in Deutschland zu unterstützen. Die Waggons waren voll von Werken der modernen Kunst und auch von Waffen. Von dem Letzteren hatten die Künstler – unter ihnen Malewicz, Kobro und Strzemiński – wohl keine Ahnung. Sie zählten eher auf die Wucht ihrer Werke und darauf, dass jene zur Grundlage der Sammlungen des künftigen Museums der Modernen Kunst werden. Über diesen Zug und die an der Aktion beteiligten Vertreter der russischen, polnischen und deutschen Avantgarde erzählen Turowski und Baumgart in ihrem gemeinsamen Projekt – er im Buch „Lokomotive der Geschichte“, sie im Film „Eroberer der Sonne“ (Buch und Film ergänzen einander ausgezeichnet und werden als Paket verkauft). Die Erzählung schreitet zügig voran und lässt sich wie ein Politthriller, ein Kriminal-, Künstler- und Detektivroman in Einem lesen.

Die Fahrt des Zuges, der eben als „Lokomotive der Geschichte“ bekannt ist, dauerte lange, erschwert durch wechselhafte historisch-politische Verhältnisse. Schließlich, in Berlin angekommen, wurde er angehalten und zurückgeschickt. Es ist bekannt, dass die Waggons noch 1927 auf einem Abstellgleis in Koluszki standen und dass man sie dort kurz danach wahrscheinlich in die Luft gesprengt hat. So verliert sich ihre Spur.
„In meiner Erzählung >Lokomotive der Geschichte<“, schreibt Turowski zum Schluss, „war dieser blindlings rasende Zug eine verlorene Wahrheit der Zukunft, eine Wahrheit, die einst um Trauminseln, neuzeitliche Utopien trieb. Das Museum der Modernen Kunst ist aber eine physische Wahrheit: der initiierende Impuls hierfür war die Überzeugung der Avantgardisten über die soziale Rolle der Kunst, deren Werke diese internationale Kollektion bildeten. Gesehen aus der Zukunft, kreist die Geschichte dieses Museums um die Wracks der einäscherten Waggons, um diese Ruinen der modernistischen Mythen. Die in der Vergangenheit gestaltete Geschichte des Museums beinhaltete eine konstruktive Kraft zum Bau einer schönen neuen Welt. Die in der Zukunft von dem Museum geprägte Geschichte vertraut dagegen auf die eigene dekonstruktive Energie, auf das kritische Potential des Wortes. Zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, die sich in meiner Erzählung abzeichnet, gähnt ein schwarzes Loch, ein Mangel, ein Verlust – weswegen diese und jene Geschichte voll von Melancholie ist, weil die sie speisende Quelle und das endgültige Ziel nicht mehr existieren. In der Tat handelt es sich um das Fehlen der Wirklichkeit, die durch das Spiel von Fakten und Fiktion verschlungen wurde“.
Das Buch von Andrzej Tuchowski Lokomotive der Geschichte und der Film von Anna Baumgart Eroberer der Sonne wurden von dem Institut Wydawniczy Książka i Prasa in der Serie der Bibliothek Le Monde diplomatique herausgegeben.

Die Ausstellung von Anna Baumgart Eroberer der Sonne kann man im Zentrum Kronika in Bytom bis zum 23. März 2013 sehen.

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